Um die Jahrhundertwende entsteht in Steglitz bei Berlin eine Strömung im Sinne der Lebensreformbewegung, die sich gegen Bevormundung, restriktive Autoritäten und den vorherrschenden Drill in der Erziehung wehrt. Die „Wandervögel“ wollen ohne ihre Eltern unterwegs sein und bevorzugen Gleichaltrige oder nur wenig Ältere als Führer. Abseits der touristischen Hotspots suchen die Jugendlichen nach Einsamkeit in Wald und Heide, übernachten mit Vorliebe unter freiem Himmel oder in Scheunen und entwickeln eigene Symbole, Fahnen, Lieder und Rituale. Die Mitglieder sind vor allem Gymnasiasten und Studenten, aber auch Mädchen sind bei den intensiven und romantisch motivierten Gruppen- und Wanderfahrten willkommen. Der Wandervogel mit seinen Idealen der Selbstverwaltung und Selbsterziehung gilt als Ausgangspunkt für die deutsche Jugendbewegung, und als wichtiger Wegbereiter für Reformpädagogik, Landerziehungsheime und Erlebnispädagogik.
Doch in der Kontroverse „Jugenderziehung oder Jugendbewegung“ setzt sich letztlich die Gruppierung um den Lehrer Ernst Enzensperger durch. Als der Alpenverein auf dem Gebiet der Jugendarbeit systematisch tätig wird, begründen die Befürwortenden ihr Vorhaben immer auch militärisch und mit einer gewissen Sehnsucht nach Zucht, Ordnung und Wiedererstarken der Nation.
So argumentiert beispielsweise Adolf Deye im Jahr 1917, dass private Institutionen besser als das Militär geeignet seien, die jungen Männer körperlich und geistig zu ertüchtigen: „So wird man nicht nur den Bergen immer wieder neue, begeisterte Freunde zuführen, sondern man wird damit auch die Forderungen des Staates und der Wehrkraft im vollsten Maße erfüllen: denn der Urgrund aller soldatischen Tüchtigkeit liegt in der Fähigkeit, ausdauernd zu marschieren.“7
Auf der Hauptversammlung 1919 in Nürnberg gelingt Enzensperger mit seinen Mitstreitern dann der Durchbruch in der „Frage des Jugendwanderns“, indem er auch nationale Überlegungen ins Feld führt: „Wir haben augenblicklich überall die Erkenntnis, daß das kostbarste nationale Gut, das wir haben, die Jugend ist und daß ihre Ausbildung nicht für den Verein allein, sondern für das Vaterland lebensnotwendig ist.“8
Das Erbe
Die Jugendarbeit im Alpenverein wurde anfangs nicht von den Kindern und Jugendlichen her gedacht, sondern von Erwachsenen ersonnen, gestaltet und durchgeführt. Der Zeitpunkt der Gründung, nach der Katastrophe des Ersten Weltkriegs und zu Beginn der ersten Demokratie auf deutschem Boden, darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Wurzeln dieser Jugendarbeit im Kaiserreich und in einer streng hierarchisch geprägten Kultur liegen. Dreh- und Angelpunkt der Jugendarbeit ist Ernst Enzensperger, dem man zugutehalten kann, dass er mit großem organisatorischen Geschick und beeindruckender Zielstrebigkeit die notwendigen Strukturen etabliert. Inhaltlich ging es darum den Nachwuchs auf Linie der Altvorderen zu bringen und mit „richtigem bergsteigerischem Geist“ zu erfüllen. Die Chance, junge Menschen an den Angeboten zu beteiligen, sie ernst zu nehmen und ihnen Verantwortung zu übergeben, wurde aber trotz der Anknüpfungspunkte und dem „leuchtenden Vorbild“ des Wandervogels vertan und sollte erst fünfzig Jahre später im Zuge von „1968“ und den neuen sozialen Bewegungen wirkmächtig werden.
Quellen
1 Vgl. Geschichte der Sektion München. https://www.alpenverein-muenchen-oberland.de/150/geschichte
2 https://www.historisches-lexikon-bayerns.de/Lexikon/Deutscher_Alpenverein_e._V._(DAV)#Gr.C3.BCndungsphase
3 Siehe auch: Bischof, Florian (2018): Erziehung als Lebensaufgabe. Ernst Enzensperger, Gründervater der Jugendarbeit im Alpenverein.
4 Ernst Enzensperger (1923): Das alpine Jugendwandern.
5 Paul Jacobi (1919): Alpine Zukunftsgedanken. MDÖAV. S. 7.
6 Hermann Amanshauser (1918): Alpenverein und Jugendbewegung. MDÖAV, S. 123.
7 Adolf Deye (1917): Der Deutsche und Österreichische Alpenverein und die Jugendbewegung. MDÖAV, S. 117.
8 Protokoll der 47. Hauptversammlung des DuÖAV. S. 35.
9 Ebd. S. 4.
10 Walter Welsch (2010), Die Geschichte der Sektion Bayerland des Deutschen Alpenvereins e. V. – Die Zeit des Ersten Weltkriegs und der Weimarer Republik 1914 – 1933.
11 Ebd. S. 170.
Autor
Autor "Epoche 1 - Etablierung der Jugendarbeit": Florian Bischof